Wie entsteht „Mehrheitsmeinung“?

 

 

 

 

 

 

UMSTRITTENES BUCH. Wenn zwei Prominente, die regelmäßig in Talk-Shows und Feuilletons vorkommen, sich über die Meinungsbildung in den Medien Gedanken machen, dann entsteht entweder ein zahmes Lob oder eine richtige Provokation. Zweites geschah: Das Buch, um das es hier geht, brachte Richard David Precht und Harald Welzer zu jenen Feinden, die sie bereits hatten, noch eine ganze Menge dazu.  

 

Der Anspruch war nicht gerade bescheiden. Mit dem Buch „Die vierte Gewalt – Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist“ wollen der Philosoph Richard David Precht und der Soziologe Harald Welzer grundsätzlich aufzeigen, was in den Redaktionen von Fernsehen, Druckpresse und sozialen Medien so alles läuft. Die kühne These bereits im Eingangsbereich lautet: Journalismus hat sich seit der Migrationskrise, der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg von seiner Kontrollfunktion verabschiedet und eine neue Rolle gefunden: „Nichtgewählte Journalisten wollen der Politik nicht nur auf die Finger schauen, sondern sie wollen sie machen.“ Das Ergebnis sei: „Massenmediale gehetzte und getriebene Politiker, die zudem jede Äußerung, ja, jeden Gesichtsausdruck durch voreilende Selbstzensur überprüfen müssen, um nicht skandalisiert zu werden, dürften kaum die notwendige Gelassenheit haben, um eine weitsichtige und vernunftgeleitete Politik zu verfolgen.“

 

Markante Beispiele

Eine der auffallendsten gesamtmedialen Meinungsbilder stellen die Autoren im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg fest. Trotz fundierter Daten aus der Bevölkerung zur Frage, ob Offensivwaffen an die Ukraine geliefert werden sollten (46% dafür, 44% dagegen) setzte sich medial eine (bis heute anhaltende) Aufrüstungsstimmung in den Medien durch. Ähnlich abweichende mediale Mehrheitsmeinungen gab es, so die Autoren, auch zu den staatlichen Corona- Maßnahmen und 2015 während der Flüchtlingskrise. In der speziell in Deutschland geführten Diskussion zu Kriegseinsätzen (Kosovo-Krieg) oder Bundeswehr-Aufrüstung stellen sich die „Leitmedien“ stramm auf die Seite der jeweiligen Regierung, ohne Bedenken oder beträchtliche kritische Strömungen aus dem Volk abzubilden: „Die Bevölkerung ist zumindest gespalten oder sogar mehrheitlich gegen weltweite Bundeswehreinsätze. Demgegenüber haben wir einen Gleichklang von wichtigen Medien, die sich zusammen mit Eliten aus Politik und Wirtschaft für mehr Rüstung und weltweite Bundeswehreinsätze engagieren.“ Das liege unter anderem daran, dass wichtige Mitglieder der Redaktionen selbst Teil der Elite seien. 

 

Viele tote Winkel

Bereits im Buchtitel gehen die Autoren mit den Medien nicht gerade freundlich um. Hat man früher Zeitungen und Fernsehinformation ehrfurchtsvoll „die vierte Macht“ genannt und ihnen eine in der Demokratie wichtige Kontrollfunktion nachgesagt, sprechen Richard David Precht und Harald Welzer bereits im Buchtitel von der „vierten Gewalt“. Es geht also um etwas Massives, Nachdrückliches und durchaus auch Gefährliches. Statt eines „für die Demokratie sorgetragenden Journalismus“, der die Pluralität der Gesellschaft in Richtung Politik vermittle bestehe eine mediale Mehrheitsmeinung, die keinerlei integrative Kommunikationsleistung erbringe. Die Phalanx der „Meinungsmacher“ interessiere „sich weniger für das konkrete Geschehen als dafür, wie die politischen Eliten damit umzugehen versuchten.“ Zusammen mit den weit von der Bevölkerung entfernten Spitzenpolitikern nähmen die Leitmedien „eine Art Helikopterperspektive ein. ein.“ Beispiel Flüchtlingskrise: „Die eigentlichen Hauptakteure – die Helfergruppen, Einrichtungen, freien Träger und Initianten, die sich, viele freiwillig, in erster Linie um die Flüchtlinge kümmerten – stellen  nur rund 3,5 Prozent aller relevanten Personen, die in den redaktionellen Beiträgen genannt werden.“ Spitzenjournalisten besprechen die „wichtigen Themen“ mit Spitzenpolitikern, statt den Dingen vor Ort auf den Grund zu gehen.

 

Ein „deutsches“ Buch

Die geschilderte Argumentation rund um „Leitmedien“ bezieht sich auf den deutschen Medienmarkt und deutsche Verhältnisse. Nach dem ersten Erscheinen des Buches „Die vierte Gewalt“ im Jahre 2022 wurden die beiden Autoren quer durch die Bundesrepublik (erwartungsgemäß) medial massiv beschimpft. In die aktuelle neue Auflage  haben sie ihre Erfahrungen mit den Reaktionen der Journalisten eingearbeitet. Von dem Befund, dass „Mehrheitsmeinung gemacht wird“, treten sie keinen Millimeter zurück. Für Leserinnen und Leser in Österreich dürften die Beobachtungen zum strukturierten Entstehen eines medialen „Konsenses“ auch interessant sein, da sich hier einige Fragen zur kommunikativen Wirklichkeit bei uns ergeben. Sollten sich die beiden Autoren eines Tages mit den Medienverhältnissen in Österreich beschäftigen, würden sie sehr rasch über das Thema „Medienförderung“ stolpern. Ein Schelm, der aus dieser Richtung politisch genehme Mehrheitsmeinungen erwartet.