Lust und Schmerzen des Konsums

 

 

 

 

MONUMENTALWERK. In über 1.000 Seiten schildert der Historiker Frank Trentmann Entstehen und Entwicklung des Konsums. Kenntnis- und detailreich führt er vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Trentmann beschreibt in „Herrschaft der Dinge“ die Verzahnung von Wirtschaft und Politik von den Grundformen des Kapitalismus bis zur heutigen Globalisierung.

 

 

 

 

Zugegeben, das ist keine Lektüre für’s Nachtkästchen. Jede Seite dieses Monumentalwerks ist mit so vielen spannenden Details ausgestattet, dass der Lektüre möglicherweise einmal jenes Schicksal droht, das man mit dem „Mann ohne Eigenschaften“ erlitten hat. Doch lassen Sie uns einmal annehmen, dass der Einstieg ins gewaltige Werk gelingt. Denn es lohnt sich! 

 

Von 100 auf 10.000

In Zeiten des Überflusses und der Konsumkritik hilft Frank Trentmann, das Phänomen Konsum in seiner Entwicklung zu verstehen. Denn umständehalber war das Wesen Mensch in früher Zeit galaxienweit von der heutigen Wegwerfkultur entfernt. Großeltern, die wir als sehr bescheiden und „arm“ in Erinnerung haben, gingen im 15. Jahrhundert, als Trentmann seine Beschreibung beginnt, noch viel frugalere Menschen voraus. Wenn damals jemand insgesamt 100 Einzelgegenstände sein eigen nennen konnte, war er bereits landläufig wohlhabend. Bei welcher Artikelzahl steht heute ein Durchschnittsmensch der westlichen Gesellschaft? Er oder sie kommt locker auf 10.000. Kein Wunder, dass Dienstleistungen zum Aufräumen und Reduzieren der privaten Konsumtürme einen regelrechten Boom erleben.

 

Konsum definiert Status

Der Titel „Herrschaft der Dinge“ signalisiert sehr gut, dass sich der Konsum nicht ganz frei vom „Konsumdruck“ entwickelt hat. Je nach Verfügbarkeit besonderer Dinge kam es zur Definition von Status und Ansehen. Mit immer wieder skurrilen Erscheinungen. Beispielsweise, wenn sich in einem von Engländern kolonisierten Land ein Einheimischer plötzlich im Stil der Londoner Regent-Street kleidete und selbstbewusst – aber „nicht legitimiert“ – die höchste Stufe des verfügbaren Konsums spiegelte. Szenen wie diese liest man im ersten Teil des Buches, der mit etwa 500 Seiten quer durch die Geschichte des Konsums von der Renaissance bis zur Gegenwart führt. Man erlebt in spannender und enorm kenntnisreicher Schilderung, wie sich die Expansion der Güter global entwickelt. Trentmann startet seine Analyse der Waren- und Gebrauchswelt deshalb in der Renaissance, weil er dort eine neuartige Wertschätzung materieller Güter konstatiert. Gleichzeitig beginne die globale Verflechtung mit internationalen Warenströmen. In China wie auch in Europa sei erstmals festzustellen, dass aus Dingen Statusmerkmale werden. Auch das Auftauchen exotischer Genussmittel führe zu einem bisher unbekannten Austausch von Waren zwischen den Kontinenten. Wer es sich leisten konnte, begann sich über den Besitz und Konsum exotischer Genussmittel zu definieren. Den heute oft kritisierten „Konsumrausch“ gab es also bereits damals.

 

Ideologien des Konsums

Frank Trentmann, geboren in Deutschland, lehrt mit dem Forschungsschwerpunkt Konsum am Birkbeck College in London. Aufgrund seiner umfangreichen Beobachtungen des individuellen Güterverbrauchs durch Jahrhunderte beurteilt er mit breiter Perspektive diverse Ideologien. So beschäftigt er sich sowohl mit massiv negativen Strömungen, die dem Konsum eine Zerstörung der irdischen Lebensgrundlagen nachsagen, wie auch mit der These, dass der Konsum die Klassen- und Geschlechterbarrieren beseitige. Als eine Art von Ideologie präsentiert er im zweiten Teil des Buches auch die Rolle der Kinder im Konsum. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts würden die Kleinen als eigenständige Konsumentengruppe ernstgenommen, nach deren Wünschen nun in die Massenproduktion gestartet wurde. Auch die Religion kommt im monumentalen Werk immer wieder zur Sprache. Konsum als „Verschwendung“ und „Prasserei“ erhält immer wieder Platz in Kanzelworten und Warnungen der Kirche.

 

Ich konsumiere, also bin ich

Bereits im Vorwort weist Frank Trentmann auf den heißen Boden hin, auf dem die Diskussionen rund um den Konsum stattfinden: „Wie man feststellen wird, ist die Moral tief verwoben in das Gefüge unseres materiellen Lebens.“ Im Laufe der Lektüre bleibt einem aber gar nichts anderes übrig, als die Pluralität von Lebensstilen und Konsumgewohnheiten als Realität dieser Welt wahrzunehmen. Die Möglichkeiten des Konsums werden als wichtige Grundlagen für die Entwicklung von Identität erkennbar. Die Herrschaft der Dinge hat längst auch Erinnerungen und Gefühle im Griff.