„Ein Gericht, das sich darauf reduziert, einzusperren, bringt ja nichts.“

STRAFMÜNDIGKEIT UNTER 14?

Rund 20 Jahre war Udo Jesionek Präsident des Jugendgerichtshofs in Wien, bis diese Institution vom damaligen Justizminister Böhmdorfer geschlossen wurde. Im Gespräch mit ANWALT AKTUELL empfiehlt er, anstelle des Wegsperrens von jungen Straftätern, über sinnvolle Beschäftigungen für diese nachzudenken.

 

Anwalt Aktuell: Herr Dr. Jesionek, sind die Kinder heute böser oder krimineller als vor 30, 40 Jahren?

 

Udo Jesionek: Ich glaube nicht, das war immer ziemlich gleich. Gewisse Zustände sind natürlich problematisch, weil es Kinder betrifft, die nicht ordnungsgemäß betreut werden. Allerdings ist ein gutes Elternhaus auch keine Garantie. Ich sag immer: die beste Kriminalpolitik ist Sozialpolitik. Man muss schauen, dass man die Kinder sinnvoll beschäftigt.

 

Anwalt Aktuell: Das Innenministerium gibt gerade bekannt, dass die Kriminalität an Salzburgs Schulen zwischen 2021 und 2023 um 45 Prozent gestiegen sei. Ist das kein Grund, um über effektivere Bestrafung von Kindern und Jugendlichen nachzudenken?

 

Udo Jesionek: Bestrafen sicher nicht, aber ordentlich behandeln. Bestrafung bringt ja nichts. Er oder sie kommt dann aus dem Gefängnis und ist genauso wie vorher. Im Gegenteil: er lernt ja im Gefängnis einen Blödsinn. Ganz wichtig wären zum Beispiel betreute Wohngemeinschaften. Aufenthaltspflicht, aber kein Gefängnis!  So kann man 13- und 14-Jährige abfangen. Man muss die jungen Leute beschäftigen und ihrem Leben einen Sinn geben.

 

Anwalt Aktuell: Warum, glauben Sie, findet das nicht statt? Im Gegenteil: Konservative und rechte Politiker reden immer öfter von der Absenkung der Strafmündigkeit…?

 

Udo Jesionek: Strafmündigkeit heißt ja nur, dass man einsperren kann. Man muss nicht einsperren! Die Politik tut einfach viel zu wenig. Bis vor kurzem haben wir ein Jugendgefangenenhaus in Gerasdorf gehabt. Dieses wurde aufgelöst und es hieß, dass die Jugendlichen nach Simmering kämen. In Wirklichkeit sitzen sie jetzt im Grauen Haus. Mit 900 anderen, erwachsenen Gefangenen. Sie haben zwar eine eigene Abteilung, aber unter grauslichen Verhältnissen. Sie haben einen kleinen Hof, sie haben keine Möglichkeiten wie Werkstätten. Sie haben ein bisserl Schulung, aber sonst nichts… Warum man Gerasdorf aufgelöst hat, verstehe ich nicht.

 

Anwalt Aktuell: Würde ein Jugendgerichtshof, wenn es ihn heute noch gäbe, die Diskussion um die Senkung der Strafmündigkeit entspannen?

 

Udo Jesionek: Ich habe am Jugendgerichtshof 16 Richterinnen und Richter, 10 Psychologinnen, 10 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, 2 Lehrer und einen ständigen psychiatrischen Konsiliarius gehabt. Man konnte etwas tun. Jetzt ist alles weg! Warum er das kaputt gemacht hat, weiß kein Mensch, außer der Herr Böhmdorfer. Ein Gericht, das sich darauf reduziert, Jugendliche einzusperren, bringt ja nichts. Natürlich wird man auf schwere Kriminalität reagieren müssen. Diese ist aber anders zu definierenIm Durchschnittsfall muss man sich um die Jugendlichen kümmern, denn nur das bringt Erfolg. Man sieht es ja in der Schweiz: dort gibt es die Strafmündigkeit bereits ab 10 Jahren, doch unter 16 kommt dort niemand in Haft. Die haben aber flächendeckende Betreuungseinrichtungen für junge und jugendliche Straftäter.

 

Anwalt Aktuell: Haben Sie Einblick, wie der aktuelle Strafvollzug in Österreich auf jugendliche Täter eingestellt ist? 

 

Udo Jesionek: Sie haben Schulunterricht, sie haben eine Stunde länger Freizeit als die anderen. Aber im Wesentlichen geht es um die Atmosphäre. Und die Atmosphäre des Grauen Hauses ist tödlich. Es gibt auch keine ordentlichkeiten  außer einem kleinen Hof, wo alle Häftlinge gehen.

 

Anwalt Aktuell: Als Jurist und kritischer Staatsbürger überblicken Sie mehrere Jahrzehnte österreichischer Geschichte. Ging es dem Rechtsstaat schon mal besser oder, anders gefragt: Wo sehen Sie Schwachstellen?

 

Udo Jesionek: Ich kann mich noch – in der Richtervereinigung und im Parlament – daran erinnern, dass man diskutiert, gerungen und Ergebnisse erzielt hat. Jetzt herrscht ein Klima der Animositäten und Beschimpfungen. Ich muss doch akzeptieren, dass eine andere Partei eine andere Meinung hat. Justizminister Broda hat 1975 die Strafrechtsreform einstimmig durchgebracht. Das war ein unerhörter Erfolg! Alle drei damaligen Parteien haben geschlossen dafür gestimmt. Heute diskutiert man nicht mehr. Es fehlt die Rücksichtnahme. Man sieht es auch im Alltag. Jeder sieht nur sich selbst und denkt nicht an die anderen. Dann gibt es einen großen Frust der Wähler, die dann auf irgendwelche Bauernfänger hereinfallen. Die Ergebnisse der Politik sind ja nicht schlecht! Es ist relativ viel geschehen in den letzten fünf Jahren. Es wird immer nur das Negative gesehen.