„Man ertrinkt ja in dem Material“

RUDOLF WELSER (80) em. Univ. Prof. Dr. Dr. h.c. mult.,

1963 Promotion zum Dr. iur., 1970 Habilitation aus dem Fach Bürgerliches Recht. Berufungen auf Lehrstühle der Universitäten Innsbruck, Linz und Wien. 1971–2007 Ordinarius für  Bürgerliches Recht und Vorstand des Instituts für Zivilrecht der Universität Wien. Seit 2007 Leiter der Forschungsstelle für Europäische Rechtsentwicklung und Privatrechtsreform der Universität Wien.

 

 

GEBURTSTAG. Anfang September wurde Professor Rudolf Welser, legendärer früherer Ordinarius für Bürgerliches Recht an der Universität Wien, 80 Jahre alt. Ein Gespräch zu seinen aktuellen Projekten, zu überbordender Gesetzesproduktion und Entwicklungen, die das ABGB und das Rechtsverständnis junger Juristen einschneidend verändern.

Interview: Dietmar Dworschak

 

Herr Professor Welser, Sie haben in diesem Jahr bereits über 1.000 Seiten publiziert. Gönnen Sie sich auch im gerade begonnenen neunten Lebensjahrzehnt keine Pause? Stehen eventuell sogar weitere Projekte auf dem Plan?

Professor Rudolf Welser: Ich habe in den letzten zwei Jahren einen dicken Kommentar zum neuen Erbrecht verfasst, der heuer im Frühjahr erschienen ist. Das hat mich, muss ich sagen, ziemlich in Anspruch genommen. Als Ergänzung dazu habe ich für Berufsanfänger oder Juristen, die sich auf eine Prüfung vorbereiten, zusätzlich dazu noch ein „Erbrecht“ als System, nicht als Kommentar, geschrieben. Als nächstes plane ich die Neuauflage meines Fachwörterbuchs zum Zivilrecht, das vor rund 15 Jahren herausgegeben wurde. Ich arbeite weiterhin auch an dem zweibändigen Werk mit, das ich mit dem Kollegen Koziol begrün­det habe, hier speziell an der Aktualisierung des zweiten Bandes. Hier sprechen wir von der bevor­ stehenden 15. Auflage. Ich hatte immer auch die Neigung, etwas Nichtju­ristisches zu tun. So halte ich auch jetzt noch ab und zu Lesungen aus meinen Büchern wie bei­spielsweise „Recht lustig“, von denen ich insge­samt sieben veröffentlicht habe. Daneben habe ich in den letzten Jahren immer wieder an einem Kinderbuch gearbeitet, das den Titel „Mama, Papa, was ist Recht?“ tragen soll. Da bemühe ich mich in Versform und in einer Spra­che, die Kindern verständlich ist, Grundbegriffe des Rechts oder „Was ist ein Gericht?“, „Was ist ein Rechtsanwalt?“, „Was macht die Polizei?“ usw. zu erläutern. Das zu erklären hat mich ein bisschen beschäftigt und ich hoffe, dass es gelingt. Dazu gehört auch, dass ein Grafiker eine gute Optik für die einzelnen Themen entwickelt. Großeltern, Eltern, Tanten und Verwandte sollen etwas in die Hand bekom­men, was sie Kindern ab 6 Jahren vorlesen und erklären können. 

 

Darf ich da gleich nachfragen, was Sie als jungen Menschen in die Rechtswelt hineingeführt bzw. an Rechtsprechung und Rechtsetzung fasziniert hat?

Professor Rudolf Welser: Da kann ich nur eine sehr enttäuschende Antwort geben. Während der Gymnasialzeit habe ich mich mehr für Klassische Literatur und alles, was mit Theater zu tun hat, interessiert. Ich war begeistert von Darstellung und vom Reden. Wir hatten ein Schülertheater, an dem ich meistens die schönsten Rollen spiel­te, bis zur Leichenrede des Marc Anton, die ich heute noch kann. Ich hab dann aber gesehen, dass man in diesem Beruf nur weiterkommen kann, wenn man ein Riesenglück hat. Ich habe auch gespürt, dass das nicht mein Milieu ist. Da haben sich ganz andere Leute als ich herumge­trieben. Vom Jusstudium wusste ich, dass man damit viel anfangen kann und sich im Grunde nicht bindet. Außerdem war ich damals noch so naiv, wie ich’s heute nicht mehr bin, nämlich zu glauben, dass man hier wirklich einen Beitrag zur Gerechtigkeit in der Welt leisten könnte. In dieser Hoffnung bin ich allerdings immer mehr enttäuscht worden. Schließlich war ich darauf aus, vorzutragen und zu lehren. Ich erkläre sehr gerne jemandem etwas. So hat mir dieser Beruf Zeit meines Lebens die Möglichkeit gegeben, Dinge zu tun, die ich liebe, wie zum Beispiel vorhunderten von Studenten Vorträge zu halten. Ich habe auch einen großen Hang zum Schreiben. Daher fällt es mir leicht, Bü­cher oder Zeitungsartikel zu verfassen. Nicht zu­ letzt bin ich gerne in der Wissenschaft tätig, denke gerne nach, um etwas Neues zu finden statt bei anderen abzuschreiben. 

 

1963 haben Sie promoviert, 1970 habilitiert. Wie hat sich das Bürgerliche Recht in diesen letzten 50 Jahren verändert?

Professor Rudolf Welser: Ich kann sagen, dass das Bürgerliche Recht in den letzten Jahrzehnten sehr stark durch das EU­-Recht geprägt wurde.Das ist unter dem Aspekt, wie ich das Recht be­treibe, keine Freude, weil die Richtlinien, die um­gesetzt werden müssen, in unser System, in un­sere Texte so gut wie nicht hineinpassen. Es sind unglaublich umständliche, undurchsichtige, ext­rem kasuistische Formulierungen, die sich oft systematisch überhaupt nicht erfassen lassen. Allein, dass das in die österreichische Rechtsord­nung integriert werden muss, dass das jetzt eine derart praktisch wichtige Materie ist, das drängt das vom Verständnis geprägte Bürgerliche Gesetz­ buch zurück. Ein Beispiel: Es gab eine Gewährleistungsreform, zu der mich das Justizministerium sehr stark für die Formulierung der Texte herangezogen hat. Ich formuliere sehr gerne und es ist mir ein Bedürfnis, klar zu schreiben. Ich habe mich bei dieser Mitar­beit sehr geplagt, aber das hat alles Grenzen. Wenn sie nicht alles übernehmen, was da vorgeschrie­ben wird, macht sich Österreich verantwortlich. Daher kann man nicht sagen: Das übernehme ich nicht, weil es hier 15 Ausnahmen gibt. Das ist mir einfach zuviel – ich mache nur eine Ausnahme! All das prägt jetzt natürlich das Zivilrecht und führt auch dazu, dass sich die jungen Leute heute so gerne mit Europarecht befassen und oft die Ba­sis dafür, die 2.000 Jahre alten Grundlagen des Zivilrechts, links liegen lassen wollen. Diese braucht man aber, um das Zivilrecht sinnvoll be­ treiben zu können. Dazu kommt, dass in den letzten Jahren die Fülle der Gesetze unglaublich zugenommen hat. Man ertrinkt ja in dem Material. Ich sehe auch einen mangelnden Respekt gegenüber einer Jahrtausen­de alten Rechtsordnung, die hunderte Male durch verschiedene Köpfe gegangen ist und daher als Gesamtsystem einen hohen Wert hat. Heutzutage sagt ein Gesetzgeber: „Wenn mir ir­gendwas nicht passt, setze ich mich hin und schreibe einfach was anderes und streiche die Hälfte durch“. Es ist auch die Sprache der Geset­ze sehr verschlechtert worden. Wir haben ja ein fast poetisches ABGB gehabt, aber das passt den neuen Redaktoren nicht. Die wollen lieber ein Papierdeutsch, sie wollen lieber einen Paragrafen machen, in dem vier oder fünf Mal die Wendung „im Zweifel“ vorkommt und wo andere Hässlich­keiten der Sprache aufgenommen werden, als dass sie ein würdiges altes Wort, das heute viel leicht nicht mehr so gebräuchlich ist, stehen las­sen. Die Fülle erdrückt uns, die ständigen Änderungen, die Novellierungen machen notwendig, dass die Gesetzesausgaben jedes Jahr neu erscheinen. Auch das Familienrecht ist derart kompliziert ge­worden, dass man sich über das Verhältnis der Eltern untereinander nur noch merken kann, dass alles zum Wohle des Kindes sein muss, aber die Diffzilitäten, die da drinnen stehen, etwa für das Abstammungsverfahren, sind derart unübersicht­ lich, dass man davor kapituliert. 

 

Wenn Sie das jetzt als langjähriger profunder wissenschaftlicher Kenner des Österreichischen Rechts sagen dann muss doch befürchtet werden, dass dem einfachen Bürger gar nichts anderes übrig bleibt, als sich vom Gesetz zu entfernen, weil er nichts mehr davon versteht?

Professor Rudolf  Welser: Das ist sowieso der Fall. Zur Zeit der Schaffung des ABGB war es vielleicht noch möglich, zu sagen, dass die Unkenntnis des Gesetzes jemandem schaden kann, aber es ist unmöglich, die heutige Rechtslage im Kopf zu behalten. Das schlägt übrigens auch aus in Richtung der praktischen Anwender. Man hat zur Zeit meiner Jugend versucht, jedes wichtige Buch, jeden wich­tigen Aufsatz anzuschauen und zu exzerpieren. Das ist heute überhaupt nicht mehr möglich.Dafür ist etwas anderes möglich: Man findet alles, indem man es googelt. Die heutigen jungen Ab­solventen wissen sehr wenig über Entscheidungen und Aufsätze. Sie wissen, dass sie sich nur hinset­zen, eingeben und klopfen müssen – und schon haben sie alles. Wenn man nichts als Grundstock gelernt hat, kann man auch nicht so gut begreifen, was passiert ist. Das ist eine ganz gewaltige Änderung. Ich kenne Großkanzleien, da hat ein junger Kon­zipient überhaupt kein Buch mehr. Der hat nur einen Computer und kann alles mithilfe dieses Geräts lösen. Man denkt jetzt offenbar auch in die Richtung, dass auf diesem Weg Entscheidungen getroffen werden können. Was der Computer jedoch gar nicht kann, das sind Abwägungen von Interessen oder von Konfiktsituationen, die über das Nume­rische hinausgehen. Es liegt derart viel an Normenmaterial herum, dass heutzutage nur mehr jeder nachschaut. Die Präsenz der Rechtsordnung in einem drinnen hat sich ziemlich aufgehört. 

 

Wenn Sie das so kritisch sehen, dann verwundert es doch, dass immer wieder von dem hohen Vertrauen gesprochen wird, das die Österreicher angeblich zu ihrem Rechtsstaat haben? 

Professor Rudolf Welser: Was soll man sonst tun als vertrauen? Ich glaube, dass das Vertrauen in den Rechtsstaat nicht so viel zu tun hat mit den zigtausenden Einzelkonfikten, die von einem Gericht entschieden oder gelöst werden müssen. Da, glaube ich, ist das Vertrauen nicht so furcht­ bar groß. Die frühere Überzeugung, dass das richtig ist, was die Richter sagen, ist, glaube ich, schon etwas reduziert. 

 

Sie sind schätzungsweise der im Ausland meistausgezeichnete Jurist Österreichs. Wie kommt es, dass man Sie in Ungarn, in Rumänien, in Polen und auch in der Türkei hoch dekoriert hat? 

Professor Rudolf  Welser: Es ist sogar noch ärger. Ich bekomme am 18. Dezember in Laibach mein viertes und – worauf ich besonders stolz bin – am 27. April mein fünftes Ehrendoktorat in Athen. Ich habe mich nicht so sehr nach Westen hin ori­entiert. Das war mir nicht so sympathisch. Au­ßerdem kann man sich nach Westen nur orientieren, wenn man in der englischen Sprache unglaublich gut ist. Ich kann mich zwar ganz gut ausdrücken, aber um dort tatsächlich mitzumischen reicht es nicht. Ich habe ein Faible für das alte Österreich. Vor knapp 15 Jahren hat der Dekan die Forschungs­stelle für Europäische Rechtsentwicklung und Privatrechtsreform aufgrund meiner Anregung gegründet. An dieser Forschungsstelle, wo wir gerade sitzen, habe ich einen sogenannten

„Wie­ner Arbeitskreis“ eingerichtet, an dem jeweils rund 25 Professoren aus den zentral- und osteuropäischen Staaten und international tätige Rechtsanwälte teilnehmen. Wir führen etwa Veranstaltungen durch wie beispielsweise zum

200-jährigen Jubiläum des ABGB, das war ein großes Ereignis im Rahmen der Universität Wien; aber auch in Istanbul oder Arat haben wir wissenschaftliche Zusammen­künfte organisiert. Im Prinzip bearbeiten wir in jedem Jahr ein ak­tuelles Thema, das von den Referenten nach den verschiedenen Rechtsordnungen der CEE-Staaten behandelt wird. Heuer beispielsweise geht es um das Thema „Buchgeld und Bargeld. Die Umsetzung der zwei­ten Zahlungsdienste-Richtlinie in den CEE-­Staaten“. Fast alle Staaten des ehemaligen Österreich-Ungarn sind mit zwei bis drei Professoren  vertreten, dazu auch noch Griechenland und die Türkei. Ebenfalls beteiligt ist das Justizministeri­um, in dessen Räumlichkeiten wir diesmal unser Treffen ausrichten. Zur Dokumentation der jeweiligen Ergebnisse redigieren wir ein zusammenfassendes Buch. Mittlerweile sind bereits 15 Bände erschienen. Meine Kontakte in die Türkei stammen ursprüng­lich aus den Achtzigerjahren, wo ich eine öster­reichisch­türkische Juristenwoche gegründet habe. Diesen Austausch gibt es übrigens bis heu­te. Über die Zusammenarbeit mit Athen freue ich mich besonders, weil ich ein humanistisch geprägter Mensch bin. Ich habe sechs Jahre Alt­griechisch gelernt und da können Sie sich vor­stellen, wie sehr ich stolz bin, an der wichtigsten Universität Griechenlands in Athen die Ehren­doktorwürde zu bekommen. Worüber soll man sich denn im hohen Alter freuen als wenn man doch irgendwo eine gewisse Anerkennung findet. 

 

Herr Professor Welser, danke für das Gespräch.